Wie lernt man Songs auswendig?

von Louis Durra

Intervalle, Rhythmen und Harmonien, aus denen ein Song besteht, sind relativ abstrakte Informationen und haben wenig „Kontext“, der einem hilft, den Song auswendig zu lernen.   Ich habe ein paar Tipps zusammengestellt, um dir diesen Kontext zu geben.  Ziel ist es, ein Lied auswendig zu lernen, nicht jeden Tipp sklavisch zu verwenden.  
Du kannst dir die „Perlen“ auswählen oder sie adaptieren. 
Es gilt aber generell: Respektiere deinen eigenen Lernprozess.  Es könnte anfangs langsam gehen – aber du wirst es schneller, wenn du wiederholst.


1. ALLGEMEINE TIPPS

a. Lerne, die Melodie zu spielen und zu singen.  Ohne die Melodie zu kennen, kannst du nicht gut begleiten oder sie als motivisches Material für deine Solos verwenden. 

b. Lerne den Liedtext.  Hier ist ein guter Tipp, um einen Text auswendig zu lernen:
https://youtu.be/k8k_rNTDjJM  (auf Englisch, aber mit wählbaren deutschen Untertiteln) 

c. Übrigens, ein toller Tipp für Sänger*innen ist es, Liedtexte ohne Rhythmus, Pausen und Satzzeichen aufzusagen. Ich meine, anstatt so:  

„Now you say you’re lonely, ____(Pause)____ 
You cried the long night through. ____(Pause)____ 
Well, you can cry me a river, cry me a river, ____(Pause)____ 
I cried a river over you.“ ____(Pause)____  

Tue manchmal so:  sage laut den Text ohne Betonung, Rhythmen, Melodie, ganz undifferenziert:
„now-you-say-you’re-lonely-you-cried-the-long-night-through-well-you-can-cry-me-a-river-cry-me-a-river-I-cried-a-river-over-you“ 

Wenn man einen Text immer mit Pausen singt, merken wir uns tatsächlich Erinnerungspausen, und denken nicht an den nächsten Satz bis wir es müssen! Pausen und Satzzeichen sind wirksamer als wir wissen – man bekommt mehr Interpretationsfreiheit durch solches Üben ohne sie … 

d. Lerne die Stufen und Intervalle der Akkordgrundtöne und die Noten der Melodie, um den Song auch in anderen Tonarten spielen zu können: sage die Stufe oder die Intervalle laut vor dich hin, während du das Lied hörst oder spielst.

2. VERWENDUNG VON AUFNAHMEN

Es macht Spaß, mit lebendigen Aufnahmen zu spielen. Man kann viele auf YouTube usw. finden. Wenn man nur die Ohren aufmacht, bekommt man unschätzbaren Stil-Unterricht! Gewiss gibt es viel in der Welt, das schief läuft, aber sei dankbar, dass du jeden Tag mit Aufnahmen von Sarah Vaughan oder Lee Morgan spielen kannst.

a. Mit Aufnahmen kannst du Details der Solos, des Gesangs, der Harmonie, des Arrangements, Rhythmusgruppe usw. betrachten. Mache die Ohren auf und merke dir, was du bemerkst. Singe, summe, spiele auch mit.

b. Spiele sehr leise, wenn du mit einer Aufnahme spielst, sonst würdest du Details verpassen. Du wirst besser hören, wenn du Aufnahmen durch Kopfhörer hörst und das Instrument so leise wie möglich mit oder ohne Verstärker spielst. Ein E-Piano / E-Bass / E-Gitarre oder Blattinstrument mit Übungsdämpfer wäre besser als ein akustisches Instrument für das mitspielen, weil der Klang des Klaviers usw. die Aufnahme übertönen würde.

c. Während du mitspielst oder mitsingst, kannst du dich auf verschiedenen Facetten konzentrieren:

  • einfach Akkordgrundtöne spielen
  • auf Harmonie fokussieren (Hat die Aufnahme besondere Akkorde oder eine besondere Form?)
  • eine Solistin oder Sängerin imitieren (Nachspielen, ein bisschen versetzt oder mit häufigem Anhalten der Aufnahme)

3. ARBEITEN MIT iRealPro (eine App, die als Notenbuch und Playback-Erzeuger für Jazz Standards funktioniert)

a. Wenn man mit einer Aufnahme oder mit anderen Musikern in einer anderen Tonart spielen will, kann man iRP in die passende Tonart umstellen und die Akkorde in der Aufnahme-Tonart sehen.

b. Mit iRP kann man Playbacks erzeugen – und mit den Mix-Optionen ein Playback ohne bestimmte Instrumente spielen. So könnte z.B. ein Gitarrist Akkordspielen üben mit oder ohne dem iRP Virtual-Piano.

c. Transponieren üben: iRP hat einen „Übungsmodus“, in dem die Akkorde, die man sieht, und die Tonart des Playbacks sich bei jeder Wiederholung wechseln – erster Chorus: Hören und Sehen F Moll, zweiter Chorus: Hören und sehen F# Moll usw. Das ist ein echt tolles Werkzeug, um sich an das transponieren zu gewöhnen.

d. iRP zeigt oft andere Akkorde als Fake Books und andere Quellen. Jazz ist bekannt dafür, dass die Songs in jedem Notenbuch anders geschrieben sind. (Manche Songs waren nach Gehör ausgeschrieben, von Aufnahmen von Musikern, die in der Lage waren, lebendige wechselnde Harmonien zu spielen. Manche Songs waren erst in veralteten Stilen geschrieben, später verjazzt oder haben halt diverse Versionen.) Welche Version gespielt wird, ist eine Frage des Konsens unter den Musikern und wird oft Moment-to-Moment auf der Bühne entschieden. Der Garten der harmonischen Möglichkeiten fängt an, wie einen Dschungel zu klingen … aber so ist es, und das solltest du wissen.

Allerdings sind iRP, Fake Books und bekannte Aufnahmen gängige Quelle für Song-Versionen, und manchmal würdest du andere Versionen der Songs hören, als was du gelernt hast. Du willst Jazz spielen, oder? Also lass die Strafe zum Verbrechen passen!

4. WEITERE TIPPS

a. Wenn du mit dem Auswendiglernen anfängst, kann es sinnvoll sein, ein Lied in kleine mundgerechte Stücke zu zerlegen – lerne die ersten vier Takte auswendig, dann die ersten acht usw.

b. Versuche, die Melodie zu singen: Stimme allein, mit einer Aufnahme, mit deiner eigenen kargen Begleitung oder höre die Melodie in Ihrem Kopf. Ja, ja, du kannst deine Stimme nicht ertragen – verschone uns mit deinem Lamentieren 😉

c. Denke dich durch das Lied in der U-Bahn, beim Spazieren, im Bett. Ohne das Instrument in der Hand kann man das Lied entspannt durchdenken und Intervall-Analysen machen.

d. Den ersten Satz (Text) von jeder Songsektion auswendig lernen.

e. Einen Abschnitt zweimal spielen, dann wieder mit geschlossenen Augen. 3x mit Lesen, 4x wieder Augen zu.

Das Üben sollte meistens erfolgreich sein – das heißt, übe in mundgerechten Stücken – sonst übst du alles stolpernd und polierst das Stolpern. Frage dich nach jedem Spielversuch, ob er gelungen ist, wie bei einem Laborexperiment. Jedes Mal, wenn du deines Erachtens mit einer Aufgabe nicht erfolgreich warst, STOPPE und vereinfache etwas: langsamer … nur eine Hand … nur singen … ohne singen … usw.

5. TRANSPONIEREN (in anderen Tonarten spielen)

Fange auch mit anderen Tonarten an, spiele z.B. einen Halbton oder Ton höher oder tiefer. Merke, wo es schwierig für dich ist, dann spiel es wieder in der originalen Tonart. Danach wieder in der zweiten. Einer nach dem anderen 2–3 mal. Wenn es gut läuft, nimm eine dritte Tonart. Spiele wieder eine von den früheren. Jetzt fängst du an, die Verhältnisse zwischen Tönen gut im Griff zu haben. Versuche es mit 2–3 mehr Tonarten.

Bei einer Jazzperformance wirst du Solos spielen, begleiten, Melodie spielen. Einen Song auswendig zu lernen heißt bequem, wohl-klingend und kreativ in diversen Rollen spielen zu können. Experimentiere dich mit jeder Rolle durch das Lied in mehrerer Tonarten.

Jetzt kannst du das Lied auswendig? Kannst du es in mehreren Tonarten spielen?

6. ABSCHLUSS: ein „Real-World Test“ des Liedlernens

Hier kannst du nachlesen, wie ich mich auch mit dem auswendig lernen beschäftige. Jetzt kannst du entschieden, ob ich wirklich tue, was ich predige.

Lied: Pannonica
Komponist: Thelonious Monk
Ballade, AABA, 8+8+8+9 (das letzte A hat einen extra Takt)
Harmonie und Melodie: chromatisch, aber sequenziell

  1. Habe erst die Realbook 2 version durchgeguckt. Hatte das Gefühl, das manche Noten falsch sein könnten (blind die Meinungen der unbeherrschten Musikherausgeber zu akzeptieren, ist nicht immer die schlauste Lebensstrategie).
  2. Habe eine Version mit Monk und Saxophonist Charlie Rouse u.a. gehört und dabei ab und zu Noten mit E-Piano gecheckt.
    https://youtu.be/Q8PHk1aA8Uo
  3. Habe noch eine Version mit Monk und Saxophonist Sonny Rollins u.a. gecheckt.
    https://youtu.be/ciqI9PXmZWU – die Noten in Takt 2 werden in der Rouse Version nicht gespielt. Sie wurden aber in der Rollins Version gespielt und waren doch korrekt geschrieben. Es gab falsche Vorzeichen in Takt 18 und Takt 19. Die Noten von der Sonny Rollins Version habe ich genommen.
  4. Mit RB2 habe ich 4 Takte zweimal gelesen, dann mit den Augen zu wiederholt, dann wieder gelesen, dann wieder mit den Augen zu wiederholt. Weiter durch das Stück in dieser Weise, bis ich das Lied in der Original Tonart mehr oder weniger auswendig kannte. Es gibt Akkorde, die ich mit der Aufnahme checken will.
  5. PAUSE, weil es anstrengende Arbeit ist.
  6. Akkorde gecheckt, habe gelernt, wie man annotiert in forScore PDF-Leser App, habe Akkorde geändert in meiner RB2.
  7. Songtext gefunden, ich singe das Lied und spiele einfache Linke-Hand Voicings. Ich fange an, zwei Textlinien zu lesen, dann singe und spiele ich mit geschlossenen Augen … aber bald spüre ich etwas Kratzen im Hals und höre auf zu singen … ich versuche aber nicht, den Liedtext auswendig zu lernen, weil ich es peinlich finde.
  8. Am Nachmittag und am Abend war ich unterwegs. Trotzdem bin ich innerlich mehrmals durch das Lied gegangen.
  9. Ich habe das Lied jetzt ziemlich gut im Kopf und fange mit anderen Tonarten an. Schwierig!, weil das Stück harmonisch anspruchsvoll ist. Ich schaue an die Noten an und mache ein bisserl Analyse.
  10. Ich sage laut Stufen und danach Akkord-Namen, bis ich an die Noten gucken kann und jeden Akkord oder Melodie-Note einen Ton höher sagen kann.
  11. In den nächsten Tagen habe ich mit anderen Aufnahmen gespielt, Solo spielen geübt, die Melodie allein in anderen Tonarten gespielt, und spannende Poesie wie folgend deklamiert:
    „die Grundtöne sind 1, b3, b6, 2, b7, b3 …
    in G wird’s G, Bb, Eb, A, F, Bb …
    in Eb wird’s Eb, Gb, B, F, Db, Gb …“